Briefwechsel in Sachen Erhalt des Betreuungsgelds (Fh 2015/3)

Nachdem das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung die Zuständigkeit für das Betreuungsgeld abgesprochen und den Bundesländern zugewiesen hatte, versicherte der bayrische Ministerpräsident Seehofer umgehend, dass er ein eigenes Landesbetreuungsgeld einführen werde. Um in Baden-Württemberg Gleiches anzustoßen, wandten wir uns an Ministerpräsident Kretschmann:

Herrn Ministerpräsident
Winfried Kretschmann
Staatsministerium Baden-Württemberg
Richard-Wagner-Str. 15
70184 Stuttgart
Betreff: Familienpolitik in Baden-Württemberg

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmann,
nachdem das BVerfG die Zuständigkeit für das Betreuungsgeld den Ländern zugewiesen hat, ist unklar, ob Bundesfinanzminister Schäuble auch das zugehörige Geld an die Länder weiterreichen wird. Er sprach sich dahingehend aus, diese Mittel reservieren zu wollen für die Finanzierung des Elterngeldes, das voraussichtlich durch eine höhere Inanspruchnahme durch gut verdienende Väter gebraucht werde. Bundesfamilienministerin Schwesig hingegen möchte das Geld in den weiteren Ausbau der Krippen stecken.

Aus Sicht des Verbandes Familienarbeit sind beide Lösungen im Sinne einer Familienpolitik, die an der Wurzel, nämlich an der Familie direkt ansetzt, kontraproduktiv. Die Ungerechtigkeiten, die beiden Systemen immanent sind, würden verstärkt.

Das Elterngeld ist als Lohnersatz konzipiert, das heißt: Je besser junge Eltern wirtschaftlich aufgestellt sind, desto höher das Elterngeld. Väter „verdienen“ so in der Regel mehr als die Mütter, obwohl dies kaum durch ein entsprechend höheres Erziehungsengagement gerechtfertigt wird. Gering- oder Nicht-Verdienende werden mit dem Mindestbetrag von 300 € abgespeist, was im Vergleich zum vor der Einführung des Elterngeldes noch gewährten zweijährigen Bundeserziehungsgeld einer Halbierung der Zuwendung entspricht: Es geschieht eine Umverteilung von unten nach oben.

Einer grün-rot geführten Landesregierung stünde es wohl an, dies durch die Einführung eines neuen einkommensabhängigen Landeserziehungsgelds für das 2. und 3. Lebensjahr eines Kindes zu korrigieren, sobald die für das Betreuungsgeld im Bundesetat eingestellt gewesenen Mittel verfügbar werden.

Den weiteren Ausbau des Krippenangebots sehen wir kritisch, weil auch damit nur einem Teil der Eltern geholfen wird, nämlich denen, die bereit sind, ihr Kind im frühen Alter von einem Jahr in andere Hände zu geben. Diese Version von Familienleben wird vom Staat hoch subventioniert, während Eltern, die ihr im Grundgesetz festgeschriebenes Vorrecht auf die Erziehung ihres Kindes wahrnehmen wollen, nach Abschaffung des Betreuungsgeldes wieder völlig bei null stehen. Sie haben de facto keine Wahl. Ihre Wahlfreiheit heißt: Vogel friss oder stirb!

Uns erschließt sich nicht, warum die massive staatliche Subventionierung der Abwesenheit der Eltern von ihren Kindern als „Familienpolitik“ firmieren soll. Es zeichnet sich ab, dass der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz für alle Ein- und Zweijährigen in der gebotenen guten Ausstattung sich als ein Fass ohne Boden erweisen wird. Die Vorstellung, dass alle betreffenden Eltern das Angebot wahrnehmen wollten, muss den Initiator/innen schlaflose Nächte bereiten. Deshalb scheint es doch sinnvoll, alternativ auch die Eltern zu stärken, die bereit sind, die Betreuung ihres Kindes selbst zu übernehmen.

Für die Behauptung, dass frühkindliche Bildung effizienter in der Sammelbetreuung stattfinde, konnten bis heute ohnehin keine wissenschaftlichen Beweise erbracht werden. Vielmehr gibt es nicht wenige Erzieherinnen, die hinter vorgehaltener Hand einräumen, dass sie die frühe Herauslösung der Kinder aus dem Elternhaus für unangemessen halten und für ihr eigenes Kind ausschließen möchten.

Nach unserer Überzeugung ist es „artgerecht“, wenn Kleinstkinder in ihrem familiären Umfeld zunächst eine sichere emotionale Bindung erwerben, bevor sie den Anforderungen der außerhäuslichen Welt ausgesetzt werden. Für Einwandererkinder ist das Erlernen ihrer Mutter-Sprache ein Menschenrecht, das nicht durch frühes Aufzwingen einer Fremdsprache ausgehöhlt werden darf. Auf der Grundlage einer sicher beherrschten Muttersprache und einer sicheren emotionalen Bindung lassen sich bei Eintritt in den Kindergarten ab dem 3. Geburtstag alle sozialen und kognitiven Lerninhalte binnen Kurzem erwerben. Als Pädagoge und Vater mehrerer Kinder werden Sie, sehr geehrter Herr Kretschmann, dies kaum anders einschätzen, ungeachtet der abweichenden Vorgaben des grünen Parteiprogramms.

Als Alternative zu dem oben vorgeschlagenen neuen Landeserziehungsgeld für die unteren/mittleren Einkommensschichten käme also auch ein Landes-Betreuungsgeld für alle Eltern in Frage. Dieses müsste allerdings nicht wieder als „Fernhalteprämie“ konzipiert sein, indem es nur Eltern zusteht, die keinen Krippenplatz beanspruchen, sondern es soll den Eltern die freie Entscheidung erleichtern, ob sie es als Anerkennung für die selbst geleistete Erziehungsarbeit behalten oder zur Mitfinanzierung der Betreuung durch Dritte (Krippe, Tagesmutter eigener Wahl etc.) einsetzen wollen. Dadurch könnten auch die Elternbeiträge in den Betreuungseinrichtungen etwas kostendeckender gestaltet werden.

Gerne sehen wir Ihrer Antwort entgegen

Mit freundlichen Grüßen
Gertrud Martin
Vorsitzende

Auf diesen Brief erhielten wir gleich zwei Antwortschreiben:
1: Herr Ministerialdirigent Prof. Dr. Claus Eiselstein aus dem Staatsministerium lässt u.a. mitteilen, wie wichtig der baldmöglichste Erwerb der deutschen Sprache auch für die jüngsten Flüchtlingskinder sei. Dass Mütter aus anderen Kulturkreisen bereit sind, sich dafür von ihren Kleinstkindern zu trennen – zumal nach den oftmals traumatisierenden Erlebnissen der Flucht – wagen wir zu bezweifeln.

Sehr geehrte Frau Martin,
vielen Dank für Ihren Brief vom 8. September 2015, in dem Sie auf die Familienpolitik in Baden-Württemberg eingehen. Bitte haben Sie Verständnis, wenn der Herr Ministerpräsident aufgrund der Vielzahl der tagtäglich eingehenden Schreiben nicht in jedem Fall persönlich antworten kann. Er hat mich daher gebeten, Ihnen zu antworten.

Wie Sie sicher wissen, hat die Landesregierung das Betreuungsgeld von Beginn an kritisch gesehen. Natürlich steht es den Eltern frei zu entscheiden, ob sie ihr Kind in eine Kinderbetreuung geben wollen oder nicht. Wir halten es aber für den falschen Weg, eine Betreuung zuhause finanziell zu fördern und damit zusätzlich attraktiv zu machen.

Sie erwähnen in Ihrem Brief Einwandererkinder, die ihre Muttersprache erlernen sollen. Dem ist sicher zuzustimmen. Gerade solche Kinder sollten aber so früh wie möglich Umgang mit deutschsprachigen Kindern haben, damit sie auch diese Sprache so früh wie möglich sicher beherrschen und sich in unsere Gesellschaft einfinden. Eine „Prämie“ für eine häusliche Erziehung ist hier sicher nicht der richtige Weg.

Diese Haltung scheint nun – nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts – auch die Bundesregierung zu vertreten. Vor kurzem hat sie zugesagt, die durch den Wegfall des Betreuungsgeldes entstehenden Spielräume für Maßnahmen der Länder und Kommunen bei der Unterstützung von Maßnahmen zur Verbesserung der Kinderbetreuung verwenden zu wollen.

Ich habe mir erlaubt, das Sozialministerium Baden-Württemberg über Ihren Brief und mein Antwortschreiben zu informieren und angeregt, Ihnen weitere Informationen zur Familien politik des Landes zu geben. Abschließend übermittle ich Ihnen die guten Wünsche von Herrn Ministerpräsident Kretschmann und verbleibe selbst

mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Claus Eiselstein

2: Auch Herr Ministerialdirigent Gerhard Segmiller lässt im Auftrag von Frau Sozialministerin Altpeter wissen, dass Eltern nur dann bei der Betreuung ihrer Kinder unterstützt werden sollen, wenn sie die Betreuung anderen überlassen. Das sei die „vernünftigste Alternative“.

Sehr geehrte Frau Martin,
Ihr Schreiben an Herrn Ministerpräsidenten Kretschmann wurde auch an das Sozialministerium weitergeleitet, um Ihnen weitere Informationen zu übermitteln.

Das Bundesverfassungsgericht hat am 21.07.2015 sein Urteil zum Betreuungsgeld verkündet. Die gesetzliche Regelung zum Betreuungsgeld verstößt nach dem Urteil des Gerichts aus kompetenzrechtlichen Gründen gegen das Grundgesetz und ist deshalb nichtig.

Es ist natürlich nachvollziehbar, dass niemand gerne auf Geld verzichtet, welches er bisher bezogen hat. Daher hat sich Frau Ministerin Altpeter mit Erfolg für einen Bestandsschutz beim Betreuungsgeld eingesetzt. Die Familien, die das Betreuungsgeld derzeit beziehen, bekommen es auch weiterhin. Und auch diejenigen, deren Anträge schon bewilligt sind, werden Zahlungen erhalten.

Eine weitere Frage ist die nach der Verwendung der freiwerdenden Mittel. Beim Betreuungsgeld handelte es sich um eine durch den Bund eingeführte Leistung. Da diese nun nicht mehr fortgeführt werden kann, war es zunächst die Entscheidung des Bundes, wofür das Geld in Zukunft eingesetzt wird. Unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen wurde zwischen Bund und Ländern ein Konsens erzielt, der im Gesetzentwurf der Bundesregierung zu einem Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz (Stand 28.09.2015) konkretisiert wurde:

„Die steigende Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern stellt die Kinderbetreuung vor große Herausforderungen. Die Bundesregierung wird die Betreuung von Kindern weiter unterstützen. Hierzu wird der Bund die finanziellen Spielräume im Bundeshaushalt, die durch den Wegfall des Betreuungsgeldes bis 2018 entstehen, dazu nutzen, Länder und Kommunen bei Maßnahmen zur Verbesserung der Kinderbetreuung zu unterstützen. Diese Summe beläuft sich im Jahr 2016 auf 339 Mio. Euro, im Jahr 2017 auf 774 Mio. Euro und im Jahr 2018 auf 870 Mio. Euro.“

Derzeit kursieren viele Vorschläge darüber, wie man das Geld zielführend einsetzen könnte. Es wird nicht in Frage gestellt, wie wichtig die Zeit ist, die Eltern mit ihren Kleinkindern verbringen und wie prägemd diese Zeit auch für die Kinder ist. Keinesfalls soll die wichtige Erziehungsarbeit der Eltern herabgesetzt werden. Es ist allerdings eine politische Entscheidung, in welchen Bereichen der Kinderbetreuung hier Schwerpunkte gesetzt werden sollen.

Für die baden-württembergische Landesregierung steht fest, dass das Geld weiterhin Familien zugute kommen sollte. Aus Sicht von Frau Ministerin Altpeter ist eine Investition der Gelder in einen weiteren Ausbau der Kleinkindbetreuung die vernünftigste Alternative, damit in Zukunft noch mehr Eltern als bisher von ihrem Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung Gebrauch machen können. Selbstverständlich sind auch weitere Mittelverwendungen denkbar, die Familien zugutekommen. Hierbei ist z.B. an den Ausbau von Angeboten im Rahmen der Familienbildung zu denken. Andere Bundesländer wie z.B. Bayern planen ein Landesbetreuungsgeld. Es wird daher nach Abschluss des o.g. Gesetzgebungsverfahrens zu entscheiden sein, in welcher Form die einzelnen Maßnahmen der Familienförderung in BadenWürttemberg neu gewichtet werden sollten.

Mit freundlichen Grüßen
gez. Gerhard Segmiller

 

Unser Mitmachvorschlag:
Bitte setzen Sie sich für die Einführung eines Betreuungsgeldes in allen Bundesländern ein! Unterschreiben Sie die online-petition unter: www.citizengo.org/de/signit/31100/view