Vom Helfer nicht zum Opfer werden (Fh 2011/2)

Bericht zur Tagung im AZK Königswinter, 14.-16.03.2011
von Monika Bunte

Zunächst möchte ich in meiner Überschrift den Helfer gern in die Helferin umwandeln, wenn ich in diesem Artikel von einer ausgezeichneten Tagung im Arbeitnehmerzentrum AZK in Kooperation mit dem DHB Netzwerk Haushalt (früher Deutscher Hausfrauenbund) berichte. Die Präsidentin des Netzwerks Haushalt, Angelika Grözinger, begrüßte die ca. dreißig Frauen herzlich und führte zusammen mit der Bildungsreferentin des Hauses, Hanna Stoewe, in die Tagung ein: „Familienpolitik ist Generationenpolitik – Die Herausforderungen an eine Familienpolitik in der alternden Gesellschaft“.
Die Gesundheitswissenschaftlerin Silke Niewohner leitet die Landesstelle Pflegende Angehörige in Nordrhein-Westfalen. Gebührenfreie Service-Nr.: 0800/220 44 00. Eine solche Landesstelle gibt es außer in NRW nur in Berlin, und am Ende der Tagung stand ganz oben auf der Wunschliste, eine solche Stelle in allen Bundesländern einzurichten.
Frau Niewohner stellte zunächst in Zahlen den Ist-Zustand in der Pflege mit Hilfe der Pflegestatistik von 2009 dar. Es gibt 2,34 Millionen Pflegebedürftige (mit Pflegestufe). Für den Pflegeeinsatz unterhalb der Pflegestufen gibt es keine Zahlen. In Heimen versorgt werden 31 Prozent, zu Hause 69 Prozent. Bei den häuslich Versorgten kommen zu 23 Prozent Pflegedienste. Das heißt, überwiegend werden die 1,7 Millionen Pflegebedürftigen mit Pflegestufe zu Hause und ausschließlich von Angehörigen versorgt. Die genauen Zahlen finden sich in einer Tagungsdokumentation (1), und viele nützliche Informationen gibt es in einer Broschüre (2), die bei der Landesstelle angefordert werden kann.
Auf zwei Fakten ist noch hinzuweisen. In 73 Prozent der Fälle ist eine Frau die Hauptpflegeperson, in 27 Prozent ein Mann. Dabei geht es bei Männern vorwiegend um die Pflege der eigenen Frau und nicht um die Pflege der Schwiegermutter. 21 Prozent aller Pflegenden gehören in die Altersgruppe 45 bis 54 Jahre. Kaum sind die Kinder aus dem Haus, da fängt die Pflege an. 27 Prozent der Menschen, die Pflege leisten, sind zwischen 55 und 64 Jahre alt, und 26 Prozent gehören zu der Altersgruppe 65 bis 73 Jahre.
Hier ein kleiner Vorgriff auf den Vortrag von Ulrike Kahl-Jordan: in der Altersgruppe 45 bis 54 Jahre sind die Scheidungsraten besonders hoch, und bei den Unterhaltsfragen muss neben der Kindererziehung auch die Belastung durch Pflege geklärt werden.

Zur Lebenssituation pflegender Angehöriger wurden sechs Punkte aufgelistet, die meines Erachtens ohne weiteres auf die Betreuung/Erziehung von Kindern zu übertragen sind:
– Pflege entspricht einer Vollzeitstelle
– Ständiger „Bereitschaftsdienst“
– Viele organisatorische Aufgaben
– Mangelnde Zeit für Entspannung, Urlaub, Hobbys und Schlaf (M.B.: Entspricht der 1. Stufe von „burn out“)
– Soziale Beziehungen verringern sich, Freunde und Bekannte reduzieren den Kontakt
– Psychische Belastungen: z.B. Rollenkonflikte, schlechtes Gewissen

Im Allgemeinen spricht man von zwei Jahren erschwerter Pflege. Wenn eine statistische Zahl von acht Jahren Pflege auftaucht, sind dabei alle von Geburt an Behinderten und lebenslang Pflegebedürftige eingerechnet. Wie sich die Gesamtzahl der Pflegebedürftigen und wie sich die Anzahl der dementiellen Erkrankungen entwickeln wird, ist geradezu bedrohlich. Wegen der abnehmenden Geburtenzahl seit Beginn der siebziger Jahre um 25 Prozent wird die Gruppe der 50- bis 70-Jährigen bei den derzeit Pflegenden bis 2030 geringer sein.
Zu dem Punkt „Bessere Vereinbarkeit von Beruf und Pflege“ gibt es im Pflegezeitgesetz (in Kraft seit 2008) einige markante Punkte:
– Kurzzeitige Arbeitsverhinderung (§ 2 PflegeZG) (max. 10 Tage, bisher ohne Lohnfortzahlung; gilt für alle Betriebe)
– Pflegezeit (sowie Kündigungsschutz) pro nahem Angehörigen max. sechs Monate (kann auch als teilweise Freistellung in Anspruch genommen werden, konkrete Ausführungsbestimmungen liegen aber noch nicht vor; gilt nur bei Betrieben mit mehr als 15 Beschäftigten)
– Sozialversicherungsabgaben unterschiedlich geregelt

So mühselig die Freistellung von der Erwerbsarbeit für Mütter bei Erkrankung eines Kindes war, so rasant läuft diese jetzt im Pflegebereich. Die große Frage bleibt: Was wollen wir als Gesellschaft dafür einsetzen, dass die Alten gut gepflegt sind, und was will ich als Einzelperson für meine Pflege ausgeben (… oder will ich lieber vererben …)?

Dr. Jürgen Rinderspacher vom Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften der Universität Münster sprach ausführlich zum Thema „Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und familiären Pflegearbeiten“. Als Motto könnte über seinen Ausführungen stehen: Keiner kann sich selber pflegen. Bei der häuslichen Pflege muss neben der Hauptpflegeperson ein Netzwerk bestehen aus Nachbarn/Freunden/Ehrenamtlichen (meist in weiblicher Form), zusätzlich zum evtl. eingesetzten professionellen Pflegedienst. Zu den unmittelbaren Aufgaben (Körperhygiene/Mahlzeiten/damit verbundener Hausarbeit) gehört das Kontakthalten.
Nicht zu unterschätzen ist die Arbeit der Hauptpflegeperson in Bezug auf Bürokratie/Finanzen im Management des Pflege- und Betreuungsnetzwerkes. Es geht um das „Sich-Kümmern“ (das bei der Betreuung von Kindern so gern bagatellisiert wird – M.B.). Hier in der Pflege wird das „Sich-Kümmern“ zumindest bei Dr. Rinderspacher als Arbeit ernst genommen.
Menschen benötigen gerade in der Situation extremer Schwäche Beziehungen und Nähe. Es soll möglichst gelingen, dass Pflegebedürftige ihr früheres Leben aufrechterhalten können. Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit sind zu respektieren. Die große, große Frage ist aber: Wird das Pflegenetz vom Pflegebedürftigen überhaupt akzeptiert? Lässt er oder sie zu, dass so viele fremde Menschen in die Wohnung kommen? Allein beim Pflegedienst: viel Wechsel durch Schichtdienst und Teilzeit-Stellen, Sonntagsvertretung, Urlaubsvertretung, Krankheitsvertretung, evtl. noch dazu Anlernlinge und PraktikantInnen, Wer bestimmt den Lebensrhythmus? Wer taktet wen? Alle diese Fragen differieren auch danach, ob die Pflegebedürftigkeit plötzlich kommt, durch Schlaganfall oder Unfall, oder ob sie schleichend einsetzt.
Ist die Hauptpflegeperson erwerbstätig, schränkt sie die Erwerbstätigkeit oft ein oder gibt sie auf. Bei der Entscheidung Aufgeben oder Weitermachen spielt das Betriebsklima eine entscheidende Rolle. Wie ist die Reaktion, wenn telefonische Hilferufe in die Firma oder in die Behörde kommen? – Andererseits kann die Erwerbsarbeit auch als Entlastung empfunden werden.
Die Erkenntnisse im Spannungsfeld Erwerbsarbeit – Pflegearbeit werden im Universitätsinstitut bei Dr. Rinderspacher in qualifizierten Interviews erfasst. In Bezug auf die Erwerbsarbeit kann vonseiten des Betriebes an einigen Stellschrauben gedreht werden; aber Beratung im Betrieb ist eher noch nicht vorhanden. Aus einer langen Checkliste sei nur auf zwei Aspekte hingewiesen: Evtl. ist ein Tele-Arbeitsplatz zu Hause einzurichten (wir in unserem Verband sagen dazu, dann muss Arbeit mit Arbeit vereinbart werden). Der andere Aspekt bezieht sich auf KollegInnen: Geben diese Unterstützung? Wenn sie fehlt, kann es grausam sein. Trotzdem: nichts heimlich machen! – Verständnis bei den Vorgesetzten ist nicht vorauszusetzen, kann aber möglich sein.
Dr. Rinderspachers Resümee: die Beziehung zwischen Pflegebedürftiger/m und Hauptpflegeperson ist zu klären, ebenso zwischen Hauptpflegeperson und den anderen Familienangehörigen. Gibt es eine moralische Verpflichtung? Wie ist ein Konsens zu erreichen? Das erfordert Sprachfertigkeit, die es oft nicht gibt.

Zum Thema „Erwerbsarbeit und Pflegearbeit in der Familie – rechtliche Rahmenbedingungen gestalten“ referierte Ulrike Kahl-Jordan, Fachanwältin für Familienrecht aus Pirmasens, die uns im vffm von der Eherechtstagung in Berlin wohlbekannt ist (3). Sie knüpfte bei der Zahl an, dass 73 Prozent der Pflegenden Frauen sind, die meist gerade die Betreuung und Erziehung von Kindern hinter sich haben.
Frau Kahl-Jordan wies eindringlich darauf hin, dass auf den Pflegestationen in Heimen der Einsatz von Zivildienstleistenden weggefallen ist. Sie plädiert für ein soziales Jahr nach Beendigung der Schulzeit, verpflichtend für alle jungen Frauen und Männer (worin ich und viele Frauen aus dem DHB ihr nicht folgten).

Das Pflegezeitgesetz, das seit 2008 in Kraft ist, korrespondiert auf Seiten der Arbeitgeber mit dem Teilzeitgesetz, was die Einstellung von Ersatzkräften betrifft. Das Gesetz gilt für größere Unternehmen und Behörden. Es setzt einen bestimmten Angehörigenbegriff voraus, der für heutige soziale Zusammenhänge zu eng ist. Zum Beispiel könnte eine Frau nicht wegen der Pflege einer Freundin die Arbeitszeit reduzieren oder 10 Tage fehlen.
Vom Pflegezeitgesetz 2008 ist der jetzt vorliegende und diskutierte Referentenentwurf der Bundesfamilienministerin Kristina Schröder genau zu unterscheiden. Im jetzt geplanten „Gesetz über die Familienpflegezeit“ (Familienpflegezeitgesetz) sieht Frau Kahl-Jordan viel Flickschusterei. Damit wird am Pflegezeitgesetz von 2008 herumgemogelt und wiederum auf die Ausnutzung von Frauen gesetzt, denn „grundsätzlich geben Männer ihren Lebensentwurf nicht auf“. Frau Kahl-Jordan sagte weiterhin: „Mein Lebensentwurf muss mir freigestellt sein, evtl. in Absprache mit meinem Partner, aber er darf mir nicht durch ein Familienpflegezeitgesetz aufs Auge gedrückt werden.“

Die Eckdaten aus dem Referentenentwurf: (4)

FAMILIENPFLEGEZEIT
ArbeitnehmerInnen können bereits im Vorfeld einer möglichen Pflegebedürftigkeit in der Familie Zeit für die Pflegephase auf einem Wertkonto ansparen. Dies wird dann mit der Lohnfortzahlung in der Pflegephase verrechnet.
Reicht das Guthaben auf dem Wertkonto nicht aus, um die Pflegephase zu überbrücken, leistet die/der ArbeitgeberIn eine Lohnvorauszahlung. Er/sie kann dazu ein zinsloses Darlehen beim Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben beantragen (§ 3 FamPflegeZG).

– Kündigungsschutz besteht nach Vorbild des Elterngelds.
– Beitragszahlungen in der Familienpflegezeit und die Leistungen der Pflegeversicherung zur gesetzlichen Rente bewirken damit zusammen einen Erhalt der Rentenansprüche. Diese Ansprüche steigen mit der Höhe der Pflegestufe.
– Damit halten pflegende Angehörige, trotz Ausübung der Pflege, die Rentenansprüche etwa auf dem Niveau der Vollzeitbeschäftigung. Personen mit geringem Einkommen werden sogar bessergestellt.
– ArbeitnehmerInnen können ihre Arbeitszeit über einen Zeitraum von maximal zwei Jahren auf bis zu 50 Prozent reduzieren und beziehen dabei aber 75 Prozent des Gehalts – so lange, bis das Zeitkonto wieder ausgeglichen ist.
– Um die Risiken einer Berufs- und Erwerbsunfähigkeit gerade für kleinere und mittlere Unternehmen zu minimieren, muss jede/r Beschäftigte, welche/r die Familienpflegezeit in Anspruch nimmt, zu diesem Zeitpunkt eine Versicherung abschließen. Die Prämien sind gering; die Versicherung endet mit dem letzten Tag der Lohnrückzahlungsphase der Familienpflegezeit.

Kahl-Jordan empfiehlt dringend, die Stellungnahmen zum Referentenentwurf zu lesen, die der Deutsche Frauenrat, die eaf (Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen), das Zukunftsforum Familie e.V. (ZFF) und die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik herausgegeben haben,(5) mit kritischen und ablehnenden Argumenten (z.B. bezüglich Arbeitsplatzgarantie und Alterssicherung). Aus der Sicht von Kahl-Jordan ist der Referentenentwurf abzulehnen. Er hat nichts mit der Anerkennung von Familienarbeit zu tun. Er ignoriert die Verflechtung mit dem Unterhaltsrecht nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, die der Familienarbeit endlich einen gewissen Wert zuerkennt (6).

Welche Anforderungen ergeben sich an die Politik und an die Gesellschaft? Die Stichworte stammen teils aus den bei der Tagung ausgelegten Skripten, teils aus der Ideenbörse in den Kleingruppen:
Frühzeitige Auseinandersetzung mit dem Thema Pflege. Sensibilisierung für das Thema Pflege allüberall. Ausbau der Infrastruktur. Bessere finanzielle Unterstützung, auch schon vor Pflegestufe I, und zwar Geld in die Hand der Pflegenden. Anpassung des Erwerbsarbeitsbereichs. Betriebsinterne Angebote. Mehr Männer in die Pflege. Absicherung im Ehrenamt. Alternative Pflegemodelle. Krisentelefon, notfalls Erstkontakt über Telefon-Seelsorge. Selbsthilfegruppen. Abbau von Bürokratie. Mehr Mitbestimmung beim Betreuungsgesetz. Und ein Vorschlag von mir: Höherer Beitrag von Kinderlosen in der Pflegeversicherung.

Die lange Liste lässt erahnen, wie viele Facetten das Thema Pflege hat und wie dringend es angegangen werden muss. An den Schluss sei der Stoßseufzer einer Teilnehmerin gestellt. „Und wie bringe ich meine Eltern dazu, die Formulare zur Vorsorgevollmacht und Gesundheitssorge zu unterschreiben?“

Quellen:
1) Hrsg.: Ennepe-Ruhr-Kreis (2010): „Zwischen Pflegebett und Büro“. Dokumentation einer Fachtagung zur Vereinbarkeit von Pflege und Erwerbstätigkeit. Hattingen, 27. Oktober 2009. Im Internet unter www.lpfa-nrw.de
2)
Hrsg.: Landesstelle Pflegende Angehörige: Was ist wenn…? 22 Fragen zum Thema Häusliche Pflege. 6. Auflage (aktualisierter Nachdruck) 2010.
Zu bestellen über die gebührenfreie Service-Nr.: 0800/220 44 00, per E-Mail: info@LPFA-NRW.de oder im Internet herunterladen: „Was ist wenn …“ Häusliche Pflege
3) Siehe Fh 1/2008, S. 1ff
4) Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für ein Gesetz zur Vereinbarkeit von Pflege und Beruf vom 24.02.2011
5) Dt. Frauenrat / eaf / ZFF / Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik
6) Siehe Fh 1/2011, S. 8

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