Fallbeil Vierzig: Der Wegfall der gesetzlichen Berufsunfähigkeitsrente

Ausgabe 2/2002

Eigentlich ist die Zahl Vierzig eine heilige Zahl mit der Bedeutung: Hälfte der Ewigkeit. Die Lemniskate als Zeichen für Unendlichkeit gleicht einer liegenden Acht 8. Die Hälfte der Acht ist die Vier, in der Reihung die Vierzig, also…
die halbe Ewigkeit. Ich möchte jetzt gern einen ganzen Artikel darüber schreiben, wo die Zahl Vierzig als heilige Zahl vorkommt.

Die Israeliten wandern beim Auszug ausÄgypten 40 Jahre durch die Wüste, bis sie im Gelobten Land ankommen. Jesus fastet 40 Tage. Im Tibetanischen Totenbuch heißt es, die Seele braucht 40 Tage, bis sie sich ganz vom Körper und Erdendasein gelöst hat. – Einen letzten Rest der hohen Wertschätzung für die Vierzig finden wir in unserem Grundgesetz darin, dass bei der Wahl des Bundespräsidenten (oder der Bundespräsidentin?) ein Alter von 40 Jahren vorgeschrieben ist. Aber ich will auf ein anderes Thema kommen:

Wer am 1.1.2001 noch keine 40 Jahre alt war, liegt unter dem Fallbeil der verlorenen staatlichen Berufsunfähigkeitsversicherung.

In meinem kleinen privaten Versicherungs-ABC hatte ich gelernt, dass auf zwei Versicherungen vor allen anderen zu achten sei: Absicherung der Berufsunfähigkeit und Absicherung bei Haftungsschäden. Weil Haftungsschäden so gravierend sein können, verpflichtet der Gesetzgeber die Autofahrer zur Haftpflichtversicherung.

Mit dem Beginn der Riester-Rente war klar, dass die Jüngeren für ihr Alter mehr vorsorgen müssen. Dass sie sich auch gegen das Risiko der Berufsunfähigkeit absichern müssen, ist bei vielen Jüngeren noch nicht recht im Bewusstsein und erst recht nicht im Portemonnaie angekommen. Die staatliche Sozialversicherung sichert nur noch das Risiko der "Erwerbsminderung" und zahlt (wenn überhaupt) maximal 30 – 35 % des Bruttoeinkommens als "Erwerbsminderungsrente" (Angenommenes Brutto-
einkommen = 3.000 EUR; netto je nach Familienstand ungefähr 1.800 EUR, Erwerbsminderungsrente knapp über 1.000 EUR. Die Angaben stammen aus der Broschüre einer Privatversicherung).

Damit es noch deutlicher wird:
Das Bruttoeinkommen beträgt 2.000 EUR, die halbe Erwerbsminderungsrente (max. 20 % vom Bruttoeinkommen) beträgt 400 EUR, hinzu kommt ein Erwerbseinkommen ür sechs Stunden Beschäftigung, wahrscheinlich auf niedrigerem Niveau als zuvor. Die Differenz zwischen Erwerbs-
minderungsrente, plus geringerem Nettoeinkommen und dem früherem Nettoein-
kommen muss durch eine private Berufsunfähigkeitsversicherung ausgeglichen werden.

Die Rentenreform 2000 bewirkt, dass die Beiträge weiterhin ungemindert an die gesetzlichen Sozialversicherungen zu leisten sind, dass ihnen aber nur noch reduzierte Leistungen gegenüberstehen.
Die volle (d.h. geringe) Erwerbsminderungsrente wird gezahlt, wenn weniger als drei Stunden bezahlte Erwerbsarbeit geleistet werden können. Die Erwerbsminderungsrente wird nicht gezahlt, wenn täglich sechs Stunden bezahlte Erwerbsarbeit möglich sind.

(Merke: Das Einkommen für einen Achtstundentag wäre höher, aber wenn die Leistungsfähigkeit nur noch sechs Stunden beträgt, verdient man/frau eben weniger, ohne Ausgleich durch Erwerbsminderungsrente).
Die halbe Erwerbsminderungsrente, also maximal 18 – 20 % des Bruttoeinkommens, erhält, wer zwischen drei und sechs Stunden bezahlte Erwerbsarbeit verrichten kann. Und jetzt kommt der Unterschied zwischen den am Stichtag über-Vierzigjährigen und Unter-Vierzigjährigen: Die drei bis sechs Stunden Erwerbsarbeit gelten bei den älteren für den bisherigen Beruf, in dem sie zuletzt tätig waren. – Bei den Jüngeren spielen Ausbildung und Qualifikation keine Rolle. Die "subjektive Zumutbarkeit" ist nicht zu beachten. Egal, in welcher evtl. schlecht bezahlten Tätigkeit sie, die Jüngeren, drei – sechs Stunden arbeiten können, sie können nur mit einer Erwerbsminderungsrente von max. 20 % des Bruttoeinkommens rechnen.

Eine Vierzigjährige mit Bürotätigkeit, die für die nächsten 20 Jahre das Risiko der Berufsunfähigkeit wenigstens zum Teil mit einer Rente von 1.000 EUR monatlich absichern will, zahlt – völlig unabhängig von der Riester-Rente für die Alterssicherung – einige Dutzend Euro monatliche Prämie. Ein Berufskraftfahrer müsste wegen des höheren beruflichen Risikos eine höhere Prämie zahlen.
Dass es kaum "reine" Berufsunfähigkeitsversicherungen gibt, war das erste, was ich bei meinen Recherchen erfuhr. Die Versicherungen bieten gern eine Kombination mit Risikolebensversicherung oder Kapitallebensversicherung an.

Eine Bank formuliert das folgendermaßen: "Den Versicherungsschutz erhalten Sie quasi zum "Nulltarif", denn ein Teil Ihres Beitrages wird für den finanziellen Schutz im Falle einer Berufsunfähigkeit verwendet. Mit dem anderen Teil bauen Sie Kapital auf!"
Das große Jammern geht aber erst da los, wo die Versicherungen im Antrag nach Abfragen des Gesund-
heitszustandes anfangen, Risiken auszuschließen:

Wenn bereits Rückenprobleme da sind, schließt die Versicherung das Risiko der Berufsunfähigkeit im Zusammenhang mit Rückenproblemen aus. Wer bereits wegen psychischer Probleme in therapeutischer Behandlung ist, bekommt keine Berufsunfähigkeits-Rente, wenn die Be-rufsunfähigkeit auf psychische Belastung zurückzuführen sein sollte. Wer Diabetes beim Vertragsabschluss hat, bekommt keine Berufsunfähigkeits-Rente, wenn die Berufsunfähigkeit mit der Zuckerkrankheit zusammenhängt.
Dringend gewarnt wird in allen Merkblättern, die "Gesundheitsfragen" nicht ehrlich zu beantworten.

Das würde die Versicherung bei Eintritt dieses Versicherungsfalles von allen Verpflichtungen entbinden, und die Beiträge bis dahin wären vergeblich gezahlt.

Merke: Versicherungen wollen nicht versichern, sondern sie wollen für ihre Aktio- näre Geld verdienen, deshalb schließen sie Risiken aus. (Eine andere Variante ist der Risikozuschlag zum Monatsbeitrag, was aber seltener vorkommt).

Wenn das Parlament der privaten Versicherungswirtschaft ein Riesengeschäft zuschiebt, sollten dafür auch Bedingungen gemacht werden können, die den Ausschluss der Risiken unmöglich gemacht
hätten. So aber ist für manche jungen Leute das Unglück vorprogrammiert. Warum gibt es nicht die Auflage, alle Jugendlichen nach Beendigung der Schulzeit/Ausbildung innerhalb eines befristeten Zeitraums ohne Rücksicht auf vorhandene Risiken in eine Berufsunfähigkeitsversicherung aufzunehmen?

Die Bundestagsabgeordneten haben ein miserables Gesetz gemacht und der Bundespräsident hat es unterschrieben. In seinem Amtseid hat er geschworen: "… die Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen … Schaden von ihm wenden … Gerechtigkeit gegen jedermann üben …" – Mit diesem Gesetz ist Schaden vorhersehbar. Ich für meine Person bin der Meinung, dass das Gesetz wieder geändert werden muss.

Die Probleme des Erwerbs-Arbeitsmarktes und der geschönten Erwerbslosenstatistik wurden jahrelang der Rentenversicherung zugeschoben. Vor allem ältere wurden über das Instrumentarium der Berufs-/Erwerbs-
unfähigkeit aus der Arbeitslosenstatistik hinausbugsiert. In einer großen Kehraus-Aktion wurden jetzt die Bedingungen für Jüngere gravierend schlecht gestaltet.

Ist dieses Problem eigentlich ein Thema für die dhg mit ihrem Schwerpunkt Soziale Sicherung für Familienarbeit?
Die Stiftung Warentest schreibt dazu (Nr. 8/2001): "Wer nichts verdient, hat im Fall von Berufsunfähigkeit trotzdem etwas zu verlieren … Hausfrauen und Hausmänner arbeiten viel, ohne zu verdienen. Fielen sie aus, wäre das für die Familie teuer, weil eine Haushaltshilfe eingestellt werden müsste … .Die meisten Anbieter versichern auch "Einkommenslose", oft aber nur bis zu einer Obergrenze von DM 2000,– Monatsrente. …. Gezahlt wird dann nur, wenn der Versicherte nichts mehr arbeiten kann."

Fazit: Das Risiko der Berufsunfähigkeit kann jeden treffen. Es kann nicht sein, dass der Versicherungswirtschaft das Recht überlassen wird zu entscheiden, wer in den Genuss der Absicherung durch eine Berufsunfähigkeitsversicherung kommt und dass ein junger Mensch mit gesundheitlichen Problemen im schlimmsten Fall keine Absicherung erhält.

Die Rentenreform 2000 hat Leistungen gemindert. Bei der Berufsunfähigkeitsrente ist das bislang noch nicht so recht aufgefallen. Alle sind mit der "Riester-Rente" beschäftigt und starren auf die staatlichen Zuwendungen.
Das Fallbeil Berufsunfähigkeit mit der Risikoeinschränkung ist noch nicht im Bewusstsein angekommen, weil offenbar noch keine medienwirksamen Fälle eingetreten sind.
Ein Vorteil der Rentenreform soll sein, dass erwachsene Kinder nicht mehr in Anspruch genommen werden können, wenn Mutter oder Vater im Alter auf Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen sind. – Wenn erwachsene Kinder so um die Vierzig in die Sozialhilfe geraten wegen Berufsunfähigkeit ohne Berufsunfähigkeitsrente (entweder Risikoausschluss durch die Versicherung oder ganz ohne Berufsunfähigkeits-Versiche-rung) bedeutet das dann, dass die Eltern wieder "dran" sind wegen der Unterhaltsverpflichtung in absteigender Linie? Dann wäre die Berufsunfähigkeit nicht nur ein Fallbeil für die "Unfähigen", sondern auch für die Eltern. Kann dieses Gesetz vor den Urteilen des Bundesverfassungsgerichts, das Verbesserungen für die Familien fordert, bestehen?
Wir sind am Erfahrungsaustausch unserer Mitglieder interessiert und bitten um Mit-
teilungen zum Thema.

Falls Sie einen Vertragsabschluss planen, empfehlen wir Ihnen eine Versicherungs-
maklerin aufzusuchen und auf deren fachliche Qualifikation zu achten.

Weitere Hinweise:
Verbraucherberatung
FINANZtest Spezial 11/2001
Finanztest 10/2001, 1/2002, 3/2002 u. a. und im Internet unter: www.finanztest.de